Midlife-Crisis

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Midlife-Crisis
(erschienen in 20 Snippets)

 

Daniel Dix war in jeder Hinsicht ein sehr gewöhnlicher Mann. Er war nicht besonders groß und auch nicht auffallend klein. Weder war sein Kleidungsstil geschmacklos, noch hervorstechend elegant. Seine noch nicht ergrauten, im Scheitel gelegten Haare waren von einem Ton, der sich irgendwo zwischen dunklem Blond, Braun und einer Idee von Rot bewegte. Mit seiner Augenfarbe verhielt es sich nicht anders. Ein blasses Grau, das eine Spur von Farbe am Rande von schwachem Grün und Blau aufwies.

Sein Gesicht wirkte zweidimensional. Die raue, glatt rasierte Haut zeigte keine besonderen Merkmale wie Leberflecken oder gar Narben. Weder Wangenknochen noch Kinn traten besonders markant hervor. Kurzum, Daniel Dix war ein Lehrbuchexemplar lebendiger Belanglosigkeit. Daran änderte auch die Brille auf seiner etwas zu kurzen Nase nichts, denn diese war durch ihr zurückhaltendes Design so unauffällig, dass man sie kaum wahrnahm, wenn man ihn anschaute. Wenn ihn einmal jemand länger anschaute, was allenfalls während der Arbeit, am Schalter der ihn beschäftigenden Bank, für einen kurzen Moment am Tag geschah. Und ob er es nun wusste oder nicht, sie war für ihn nicht weniger als eine allumfassende Metapher, die er ständig bei sich trug. Er schaute durch die Brille und die Leute schauten durch Daniel.

Wenn Sie der Meinung sind, selbst jemals einen guten Witz aus der Situation heraus hervorgebracht zu haben, dann stellen Sie sich einen Menschen vor, der diese Erfahrung Zeit seines Lebens noch niemals hatte sammeln dürfen. Es war keineswegs so, dass Daniel keinen Sinn für Humor gehabt hätte. Im Gegenteil, er konnte sich ganz vorzüglich über die absonderlichsten Dinge amüsieren. Straßenschilder, die Nährwertangaben auf Joghurt, sowie die verwirrende Form der Zahl 8.

Jedoch gelang es ihm selbst nie, diese gewisse Finesse auf-, diesen Geistesblitz hervorzubringen, den es bedarf, um andere zu erheitern. Fast schon möchte man mitleidig an dieser Stelle einfügen, Daniel wäre wenigstens im Laufe seiner Schulzeit immerhin Gegenstand von Gelächter gewesen. Ein unbeholfener Tollpatsch, der ironischerweise nur durch seine Naivität andere amüsierte. Aber das wäre eine Lüge. In Wahrheit hatte Daniel auch seine Schulzeit weit unter dem Radar seiner Mitschüler und auch dem der meisten seiner Lehrer verbracht, von denen sich die allerwenigsten allein seinen Namen behalten konnten.

Nun, andererseits, was man nicht kennt, kann man schwerlich vermissen und so genügte Daniel in Abwesenheit besserer Alternativen seine stetig wachsende Sammlung an Streichholzschachteln zur geistigen Erbauung und Erhaltung eines Mindestmaßes an Persönlichkeit.

Das einzig annehmbar Sinnvolle, was Daniel in seinem Leben bisher zuwege gebracht hatte, war ein konstanter Blutdruck, an dem es nicht das Geringste zu beanstanden gab.

Natürlich war auch Daniel, trotz aller, wenn auch nicht namentlicher, Ähnlichkeit zu einem Ikea-Möbelstück, letztendlich ein Mensch und somit ein wehrloses Opfer seiner ureigenen Biologie. Was wiederum gelegentlich Auslöser gewisser Unwägbarkeiten war.

Sie ahnen es sicher bereits, Frauen spielten in Daniels Leben eine weitgehend untergeordnete Rolle.

So ergaben sich in erster Linie einige Probleme bezüglich des Umgangs und mithin der konkreten Verwendung des anderen Geschlechts. Zwar war Daniel keineswegs mehr unbefleckt, allerdings hatte seine Fleckenbillanz mehr Ähnlichkeit mit einem frisch geborenen Maikäfer als mit einem ausgewachsenen Gepard.

An dieser Stelle sollte dringend darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den vorliegenden Schilderungen keineswegs um komödiantische Ausführungen handelt. Um dies zu verdeutlichen, sollten wir einen Blick in Daniels Gefriertruhe werfen. Die dort vorzufindenden Leichenteile waren ursprünglich Eigentum und Bestandteil einer gewissen Miranda Jones. Miranda verdiente ihr Geld vorwiegend im ältesten langweiligen Gewerbe der Welt. Sie war Finanzbeamtin. Vor ihrem Aufstieg zur Tiefkühlware bearbeitete sie vor allem Grundstücksangelegenheiten.

Nun will es das Schicksal so, dass auf einen solchen Vertreter besagten Menschenschlags, Personen wie Daniel Dix durchaus abenteuerlich und verwegen wirken können. Und nachdem sich die zwei in der Warteschlange einer Apotheke kennengelernt und beide übereinkommend festgestellt hatten, dass soziale Interaktion auf sie gleichermaßen befremdlich wirkte, verlagerte sich das Geschehen unter Umgehung üblicher Balzrituale schnell in Daniels Wohnung, wo sie sich zügig näherkamen. Etwa vergleichbar dem Bild zweier ausgehungerter Kojoten, die sich verzweifelt auf den Kadaver körperlicher Liebe stürzen.

Wie er so über die grausamen Details der vergangenen Nacht nachdachte, bekam Daniel langsam Hunger. Und so schlenderte er hinüber zur Tiefkühltruhe und zog einen Pizzakarton unter Mirandas linker Wade hervor. Zwar überlegte er kurz, wie sich wohl ein paar Zehen auf seiner Pizza Spinaci machen würden, entschied dann aber eisern zu bleiben und seine vor kurzem beschlossene vegetarische Lebensweise weiterhin wacker durchzuhalten. Die tragischen und im Übrigen äußerst schmerzhaften Umstände, die zum Ableben von Ms. Jones führten, wollen uns hier jedoch nicht näher interessieren. Weitaus wichtiger indessen ist, was dieses Ereignis in Daniel auslöste, oder vielmehr nicht auslöste. Denn er hatte den Gedanken, sich durch das Geschehene eine Identität zu schaffen, im konkreten Fall die eines Mörders, nicht ganz zu Ende gedacht und so steckte er nun in einer sprichwörtlichen Misere. Seine Tat war, wie er feststellen musste, bedeutungslos und höchst irreal, wenn nur er selbst davon wusste. Sobald jedoch jemand anders davon Kenntnis erlangte, wären die Konsequenzen für ihn nicht ganz unwesentlich. Zumindest empfand er den Gedanken an eine Gefängnisstrafe als überaus schädlich für seine persönliche Freiheit. In Ansehung der bestehenden Sachlage erschien es Daniel daher sinnvoll und hilfreich, die sterblichen Überreste Mirandas an einen weniger belastenden Ort zu verbringen. Und so nahm er sie aus dem Tiefkühler, übrigens ein recht teures und energiesparendes Modell der Firma Blackwell, und verstaute sie im Kofferraum seines Wagens zusammen mit einem Spaten, den er – als hätte er gewusst, dass er ihn noch einmal brauchen würde – seit Jahren unbenutzt in seinem Keller aufbewahrte.

Gemäß Murphy‘s Gesetz war es natürlich unausweichlich, dass Daniel an diesem Abend zum ersten Mal in seiner inzwischen mehr als zwei Dekaden andauernden Fahrpraxis von der Polizei angehalten wurde. Möglicherweise war es das flaue Gefühl in seinem Magen gewesen und der Wunsch dieses möglichst schnell loszuwerden, was ihn dazu bewogen hatte, mit etwas überhöhter Geschwindigkeit Richtung Ortsausgang zum Waldrand zu fahren.

Nach allem was wir bisher über Mr. Dix wissen, verwundert es vermutlich nicht, dass der Polizist nach Einsichtnahme in Daniels Papiere schnell das Interesse an seiner Person verlor und sich damit begnügte, ihm eine Verwarnung auszusprechen. Einen kurzen Moment lang war Daniel versucht, dem Polizeibeamten ein Geständnis abzulegen. Nicht etwa, weil er sich schuldig fühlte. Sondern weil er sich Zeit seines Lebens stets darum bemüht hatte, das Richtige zu tun. Was ihn letztendlich davon abhielt, war die simple Tatsache, dass es für ihn selbst gewiss nicht das Richtige war. Für Miranda gab es kein Richtig oder Falsch mehr. Und erstmals wurde ihm wirklich bewusst, dass dieses Richtig nur gegenüber einer höchst anonymen, übergeordneten Macht existierte, die ihn inzwischen nicht mehr im geringsten interessierte, da sie ihm Zeit seines Lebens gezeigt hatte, dass auch sie sich nicht im Ansatz um ihn scherte. Und so fuhr er von dannen und vergrub Miranda im Wald. Und wie er die letzten Schaufeln Erde auf ihre letzte Ruhestätte warf und abermals die Ereignisse des vorigen Abends vor seinen Augen Revue passieren ließ, wurde ihm klar, an welcher Stelle ihm ein Fehler unterlaufen war. Ausgerechnet ihm war die Ungeduld zum Verhängnis geworden.

Ein überaus positiver Nebeneffekt seiner kürzlichen Episode war eine neugewonnene und höchst willkommene Furchtlosigkeit. Und so beschloss er die Gunst der Stunde zu nutzen und begab sich umgehend in eine hoch frequentierte Bar seiner Heimatstadt. Es dauerte nicht lange, bis Daniels durchdringender Blick eine junge Frau ausfindig machte, die darin einen anziehenden männlichen Charme ausmachen konnte und sich nur wenige Augenblicke später davon erobert sah.

Zwar dauerte es eine ganze Weile und gelegentlich wurde Daniel die Zeit recht lang, doch nicht ganz ein Jahr später war es dann soweit. Aus Daniel war ein Jemand geworden. Er wurde Vater.